Von Rohtraut Wittstock (aus „Deutsches Jahrbuch für Rumänien 2006“)
Im Sommer, vor allem im Urlaubsmonat August, kehrt mehr Leben in die Dorfstraßen von Urwegen ein. Das gilt nicht nur für diese stattliche Gemeinde im Unterwald, dem Landstrich, der sich unter den Wäldern der Karpaten südlich von der Strecke zwischen Mühlbach und Großpold dahinzieht, sondern für viele siebenbürgische Ortschaften, in die in den Sommermonaten die einst nach Deutschland ausgewanderten Sachsen zurückkehren. In Urwegen aber sind es besonders viele, ungefähr 200 in den letzten Jahren. Ältere Semester, Rentner, die nicht zurück zur Arbeitsstelle müssen, verbringen mehrere Monate in ihrem Heimatort, richtig zurückgekehrt sind allerdings nur ganz wenige.
Heute ist Urwegen leicht zu erreichen, indem man bei Reußmarkt von der Europastraße, die von Hermannstadt nach Arad an der westlichen Grenze Rumäniens führt, abzweigt und nach einer Strecke von sechs Kilometern die Gemeinde erreicht. Nur „Garbova“ ist auf dem Ortsschild zu lesen, anders als bei den meisten benachbarten Dörfern, wo auch die deutsche Ortsbezeichnung angegeben wird. Einst war die Urwegener Umgebung von Weinbergen geprägt, in denen ein edler Tropfen heranreifte. Das ist heute nicht mehr der Fall, aber die zwischen Hügel gebettete Gemeinde mit den stattlichen Bauernhäusern nimmt die Aufmerksamkeit des Besuchers alsbald gefangen. Zuerst wird ihm der massive Glockenturm auffallen, dann die Dorfkirche, um welche die Straße richtig einen Bogen macht, weil der Chor aus der Flucht der Hausfassaden hervorspringt. Dazu soll es einer von der österreichischen Kaiserin Maria Theresia höchst persönlich ausgestellten Genehmigung bedurft haben, heißt es im Dorf. Äußerst malerisch nimmt sich dann noch die Bergkirche auf der Anhöhe neben der Gemeinde aus.
Urwegen befindet sich in einem der ältesten Siedlungsgebiete der Siebenbürger Sachsen, die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1291. Das beweisen auch diese Baudenkmäler, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Die Burg in der Dorfmitte war einst Sitz eines Gräfengeschlechts, doch wurde sie – wie auch in anderen Gemeinden – noch im 15. Jahrhundert von den Dorfbewohnern gekauft und zu einer Wehrburg umgebaut. Bei vernichtenden Türkeneinfällen hat sie ihnen gute Dienste geleistet. Erhalten hat sich außer dem viergeschossigen Bergfried aus rohem Bruchstein, der von Strebepfeilern gestützt wird, der starke Torturm und davor der lange Eingangstunnel, wo man noch sehen kann, an welcher Stelle das Falltor angebracht war. Von den meterdicken Mauern eines Turmes geschützt, wird heute noch, wie früher in vielen sächsischen Gemeinden, der Schweinespeck aufbewahrt, meterlange Seiten hängen da von Balken herunter. Die junge Burgbetreuerin Edda Sifft zeigt sie den Besuchern, wie auch das Museum mit Trachtenstücken, Stickereien, alten Fotos von Ereignissen aus dem Gemeindeleben, Einrichtungs- und Haushaltsgegenständen. Das Museum ist in den Räumen untergebracht, die einst bei Belagerung als Pfarrwohnung und Schule dienten. Der Bergfried wird heute als Glockenturm benutzt, eine daran angebrachte Marmortafel erinnert daran, dass der Turm 1999 mit dem besonderen Einsatz des Kurators der evangelischen Kirchengemeinde, Johann Thieß, renoviert worden ist. Dazu haben auch viele Urwegener, die heute in Deutschland leben, durch Spenden einen entscheidenden Beitrag geleistet. In unmittelbarer Nachbarschaft der Burg wurde im ehemaligen Predigerhaus ein für jeden offen stehendes Gästehaus der evangelischen Kirche eingerichtet.
Edda Sifft führt die Besucher auch in die Kirche, erzählt einiges aus der Geschichte des Baus. Auch diese hat einen frischen Anstrich bekommen, sie steht sauber und gepflegt da. Zweimal im Monat ist regelmäßig Gottesdienst für die Urwegener, Pfarrer Wilhelm Meitert aus Großpold betreut die Gemeinde. Es fällt in der Kirche nicht nur die schöne Emporenmalerei auf, sondern auch die barocke Ausstattung. Mit besonderer Sorgfalt holt die Kirchenbetreuerin die verschiedenen Altartücher aus der Schublade, faltet sie auseinander und verweist auf die kunstvolle Stickerei. Es sind mit Geduld und Fleiß ausgeführte Handarbeiten, die Dorfbewohnerinnen gestickt und aus gegebenem Anlass gestiftet haben. In einer Gemeinde, in der vor etwas mehr als 20 Jahren noch sächsische Trachten gestickt wurden, ist der Wert dieser Handarbeiten allen bewusst.
Die Bergkirche ist eine eindrucksvolle Ruine, noch ist die Gestalt des Baus gut zu erkennen. Die romanische, einst dreischiffige Pfeilerbasilika aus dem 13. Jahrhundert, von der das Mittelschiff und der schlanke Glockenturm mit rundbogigen Zwillingsfenstern noch stehen, hat keinen Dachstuhl, der ist 1870 verbrannt, als junge Männer, einem alten Brauch folgend, beim Schwingen von brennenden Strohgarben das Dach in Brand setzten. Das vom Dorf aus effektvoll zu verfolgende Schauspiel hatte damit endgültig ein Ende gefunden. Mit dieser Kirche verbunden ist die alte Sage von der Braut von Urwegen, die auf dem Weg zur Trauung starb. Es heißt, ihr Brautkranz sei zu Stein geworden.
Die kaum noch sichtbaren Ruinen einer weiteren sagenumwobenen Fliehburg verbergen sich etwa vier Kilometer von der Ortschaft entfernt im Wald.
Die stattlichen Bauernhäuser bezeugen heute noch den ehemaligen Wohlstand der Gemeinde. Und den brachte der Wein. Das ist auch jetzt noch an den Häusern zu sehen, an den reichlich mit Weinreben verzierten Fassaden und Toren. Weinreben im Dachgiebel, Weinreben an Fensterumrahmungen, Weinreben in den Brüstungsfeldern unter den Fenstern, Weinreben über dem Torbogen. In manchen Brüstungsfeldern sind ganze Szenen dargestellt, mit Jäger und Vogel und Baum – aber auch da fehlt die Weinrebe nicht. Viele dieser Häuser sind renoviert und der Fassadenschmuck ist mit viel Liebe neu gestrichen oder wieder hergestellt worden. Oft sind es die Häuser der nach Deutschland umgesiedelten Sachsen, die ihre Wirtschaften behalten konnten, wenn sie erst nach der Wende das Dorf verlassen haben. Weitere 50 Urwegener sind durch Rückgabe oder Rückkauf wieder in den Besitz ihrer Bauernwirtschaften gekommen. Von diesen sind mehrere auf Hochglanz gebracht worden, sie bestimmen zum Teil das Dorfbild. Für weitere Häuser läuft das Rückgabeverfahren noch.
Ebenso schmuck ist das Haus des Kurators Johann Thieß. Mit seinen umfassenden Wohnräumen, den weitläufigen Wirtschaftsbauten mit Ställen und Scheunen ist es ein Musterbeispiel für einen Urwegener Bauernhof. Außerdem ist er ein Winzer, einer der wenigen, die es in Urwegen noch gibt. Sein ganzes Haus ist unterkellert. Im Sommer hat der über 75-Jährige alle Hände voll zu tun, dann beschäftigt er auch eine Reihe anderer Dorfbewohner.
Wenn eine der Scheunen neu zu decken ist, damit sie die eigenen Traktoren und anderen Landmaschinen schützt, dann funktionieren auch noch die die nachbarschaftlichen Strukturen. Von den einst 13 Nachbarschaften – eine grundlegende Einrichtung des sächsischen Gemeinwesens – gibt es heute noch eine. Seine Frau Katharina steht dem Kurator als unentbehrliche Stütze zur Seite. In ihrem Blumengarten blüht es bunt: Phlox, Rosen, Margareten und Fuchsien. Die Arbeit der Dachdecker wird von schmackhaften Jausen und reich gedeckten Tischen zu Mittag und am Abend unterbrochen. Auch die Zufallsgäste werden freundlich dazu gebeten, man sitzt gemeinsam um den Tisch in dem Zimmer, in dem ein von Büchern überquellender Bücherschrank darauf hindeutet, dass in Mußestunden auch gelesen wird. Für Bücher über Siebenbürgen oder gar Urwegen besteht ein besonderes Interesse.
Thieß scheint die allgemein herrschende Ansicht zu widerlegen, dass man heute in Rumänien von der Landwirtschaft nicht leben kann. Spricht man ihn darauf an, bestätigt er mit Nachdruck: Man kann nicht. Diesel sei zu teuer, auch der Kunstdünger und die Unkrautvertilgungsmittel. Die Erzeugnisse hingegen hätten einen zu niedrigen Preis, der Wein ließe sich nicht verkaufen. Um die Fässer für die kommende Traubenernte freizubekommen, müsse er Branntwein machen. Um die beim Verkauf zu billigen Pflanzenerzeugnisse besser zu verwerten, züchte er nun Schweine, 32 stünden in seinem Stall.
Wie ist es dann möglich, dass die meisten Häuser in Urwegen trotzdem so gepflegt aussehen? Bauarbeiten sind bekanntlich teuer. Die aus Deutschland kommenden Urwegener hätten in dieser Hinsicht eine Rolle gespielt, die übrigen rumänischen und deutschen Dorfbewohner wollten da nicht hintenan stehen. In der Gemeinde habe es schon immer eine Art Wettbewerb gegeben, jeder wollte den anderen übertreffen, wenn es um Haus und Hof ging. So ist es geblieben, auch wenn man große Opfer bringen muss.
Mit Dankbarkeit und Ehrfurcht spricht Thieß von den Eltern und Großeltern, die es vor allem durch den Wein zu Wohlstand gebracht und ihren Besitz stetig ausgebaut haben. „Sollen wir es Wüste lassen?“ fragt er, wenn man ihn daran erinnert, dass er bei seinem fortgeschrittenen Alter etwas zurückstecken könnte. Manche Leute im Dorf ließen ihre Felder wegen Geldmangel brach liegen oder bearbeiteten nur einen Teil davon, um die Arbeiten auf den genutzten Flächen gründlich durchführen zu können.
Agnetha und Michael Scherer leben schon seit 1978 in München. In der bayerischen Hauptstadt und Umgebung leben rund 400 Urwegener, man trifft sich, man bildet eine Nachbarschaft. Michael Scherer leitet einen Chor von Landsleuten, sie singen Volkslieder und geistliche Lieder und pflegen die Geselligkeit. Der ausgebildete Schreiner, der vormals in Urwegen eine erfolgreiche Tischlerwerkstatt betrieb, ist mit seiner Frau jetzt oft längere Zeit in der Heimatgemeinde. Das auf heutigen Standard gebrachte Haus wurde durch einen Prozess zurückbekommen. Es wurden gründliche Umbauarbeiten gemacht, der weitläufige Hof wird zum Teil von einem Rasen mit Bodenbeleuchtung bedeckt. Es sitzt sich gemütlich auf der Veranda bei einem herzhaften Abendbrot mit Wurst und Käse und Tomaten und natürlich mit Speck, echtem Urwegener Speck mit ebenso echtem Urwegener Wein.
Ob die nächsten Generationen, die Kinder und die Enkelkinder, auch noch gerne nach Urwegen kommen, wird gefragt. Von den fünf Kindern kommen einige öfter, andere seltener, aber ein Sohn hat sich in Bukarest niedergelassen und arbeitet da in einem deutschen Unternehmen. Häufig kommen auch die Enkelkinder, es ist wie für die Erwachsenen auch für sie eine Gelegenheit, sich mit Freunden, die ebenfalls nach Urwegen zurückkehren, zu treffen.
Katharina Thieß freut sich, dass so viele Urwegener wieder ins Heimatdorf kommen. Jeden Sommer wird im Garten des Pfarrhauses, unter Nussbäumen, mit allen ein Fest gefeiert. Da beginnt das große Backen und Braten. Es werden große, runde Brotlaibe und viel Kuchen gebacken. Es soll ja alles „wie zu Hause“ sein. Wenn man sich auch nicht immer auf der gleichen Wellenlänge trifft, so fühlt sich die kleine Gemeinschaft von 40 Sachsen, die in Urwegen verblieben sind, durch die Anwesenheit der ausgereisten Landsleute doch gestärkt.